15. März 2024

Zukünftige Versorgung braucht echte Digitalisierung und neue Strukturen

Hausärztinnen- und Hausärzteverband Baden-Württemberg, Jan Winkler

Die berufspolitische Diskussion beim 22. Baden-Württembergischen Hausärztetag war von der dramatischen aktuellen Situation geprägt: Vor dem Hintergrund des massiven Hausärztemangels tauschten sich am Freitag Expert:innen aus Gesundheitswesen, Politik und Wissenschaft zu Zukunftsfragen der ambulanten Primärversorgung aus. Rund 200 Zuhörer:innen verfolgten die Debatte über neue Versorgungsstrukturen, wie sie das HÄPPI bietet, und den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI).
 

Wie der gesamte Hausärztetag stand auch die berufspolitische Diskussion unter dem Motto "HÄPPI in die Zukunft!". Mit Blick auf fast 1.000 fehlende Hausärzt:innen im Land falle es allerdings schwer, "happy zu sein", sagte die Vorstandsvorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands Baden-Württemberg, Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth, bei der Eröffnung der zweitägigen Veranstaltung im Mövenpick Hotel Stuttgart Airport. "Noch weniger happy macht es, wenn nun auch noch die Vergütung der Praxen in der Regelversorgung gekürzt wird, wie es die KV vergangene Woche bekanntgegeben hat", stellte sie klar und wies darauf hin, dass rein rechnerisch schon jetzt in fast jeder Gemeinde in Baden-Württemberg eine Hausärztin oder ein Hausarzt fehle.

Sicherstellung der zukünftigen Versorgung mit dem HÄPPI-Konzept

"Als Verband haben wir mit unserem Versorgungskonzept HÄPPI, das für Hausärztliches Primärversorgungszentrum – Patientenversorgung Interprofessionell steht, eine klare Vision, wie die Versorgung in Zukunft aussehen kann", sagte die HÄVBW-Vorstandsvorsitzende Dr. Susanne Bublitz. Damit die Vision Realität werden kann, brauche es die Unterstützung und ein gemeinsames Bekenntnis zur hausärztlichen Versorgung.

Forderung: Kipppunkt abwenden – Krisengipfel einberufen

Konkret forderte das HÄVBW-Vorstandsteam einen Krisengipfel auf Landesebene, um gemeinsam Maßnahmen zur Sicherung der hausärztlichen Versorgung, die sich an einem „Kipppunkt“ befinde, auf den Weg zu bringen. Adressiert ist diese Forderung auch in einem offenen Brief, den das Vorstandsteam an Manfred Lucha, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration in Baden-Württemberg, übergab. In seinem Grußwort dankte der Minister den Hausärzt:innen für ihr „großes Engagement“, „auch in schwierigen Zeiten“. Die Aufgabe der Akteure im Gesundheitswesen sei es, gesellschaftliche Entwicklungen, wie den demografischen Wandel, zu antizipieren und dafür zu sorgen, dass sich „ein patientenorientiertes Gesundheitswesen homogen entwickelt“. „Wir müssen im besten Sinne sektorenübergreifend arbeiten“, sagte der Minister und verwies auf die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV), die genau das leiste und zudem „das Verantwortungsbewusstsein stärkt“. Manfred Lucha stellte heraus, dass die HZV im Gegensatz zum EBM nicht kleinteilig arbeite. In diesem Zusammenhang konstatierte er: „Dass wir eine EBM-Übersteuerung haben, liegt am EBM selbst.“ Er sicherte zu, die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zugesagte Entbudgetierung auf Bundesebene „in den Debatten im Bundesrat weitervoranzutreiben“.

Vielfach ungenutzte Ressource: Künstliche Intelligenz in der Medizin

Prof. Dr. David Matusiewicz, Dekan und Institutsdirektor an der FOM-Hochschule und geschäftsführender Gesellschafter der DXM Group, führte in seiner Keynote auf die Bedeutung künstlicher Intelligenz als vielfach ungenutzte Ressource in der Medizin hin. 7,2 Mio. Patientendaten würden nicht im Sinne der Digitalisierung genutzt, stattdessen seien Ärzt:innen immer noch damit beschäftigt, „Patientenakten zu suchen und Handschriften zu entziffern“. Dies dürfe nicht mehr Teil des Berufsbilds sein.

In der anschließenden Diskussion, die von Jürgen Klöckner, Hauptstadtkorrespondent für Gesundheitspolitik und künstliche Intelligenz beim Handelsblatt, moderiert wurde, bestätigte auch die Vorstandsvorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg Dr. Susanne Bublitz, dass die Hausarztpraxen weit entfernt von echter Digitalisierung und dem Einsatz künstlicher Intelligenz sind: „Im Moment nutzen wir nur verschiedene digitale Tools oder Algorithmen, aber das hat mit KI nichts zu tun.“ Das Springen zwischen verschiedenen Anwendungen sei für MFA nicht praktikabel. „Die Schnittstellen sind nicht offen, für dieses Problem braucht es dringend eine Lösung der PVS-Hersteller“, sagte Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth.

Auch Prof. Dr. Attila Altiner, Ärztlicher Direktor Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung Universitätsklinikum Heidelberg, machte klar, dass es eine Vielzahl von Hürden bei der Digitalisierung gibt. Dass die Patientendaten nicht im Sinne der Digitalisierung genutzt werden, liege an der „künstlichen Intelligenz des Systems, das kein Interesse an Transparenz hat. Wenn wir Versorgung an Qualität festmachen wollen, dann müssen wir diese Barrieren überwinden.“

Petra Krebs MdL, stellvertretende Fraktionsvorsitzende GRÜNE und Sprecherin für Soziales, Gesundheit und Pflege, gab zu bedenken, dass bei der Digitalisierung „die Lebensrealität der Menschen die Entscheidungsgrundlage“ sein müsse, das „habe auch mit Chancengleichheit zu tun“. Sie räumte ein, dass Digitalisierung „viele Chancen im Praxisbetrieb bietet“, stellte allerdings zur Debatte, ob es sich hierbei um eine politische Aufgabe handle.

Für die Vorstandsvorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands Baden-Württemberg, Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth stellte sich die Frage nur bedingt: „Mit der gematik haben wir bereits eine Bundesbehörde, die es richten soll.“ Was es stattdessen brauche, sei „ein Wettbewerb der Ideen“. Auch Johannes Bauernfeind nahm Bezug auf die gematik: „Es ist nicht Aufgabe der gematik, eine eigene App für das E-Rezept anzubieten, sondern dafür sorgen, dass Schnittstellen funktionieren. Ohne klare Schnittstellenregelung kommen wir nicht weiter. Das muss diese Bundesregierung ganz schnell angehen.“ „Die Politik muss topdown durchgreifen“, sagte auch Prof. Dr. David Matusiewicz und forderte eine Art „SAP-System“ für das Gesundheitswesen, „dann hätten wir auch nicht das Problem der Schnittstellen“. Prof. Dr. Attila Altiner appellierte an die Hausärzt:innen: „Wir machen den Fehler, zu denken, Digitalisierung sei etwas für Nerds. Wir müssen Anforderungen und Bedürfnisse definieren."

HÄPPI – Start der Pilotphase

Digitale Anwendungen spielen auch im HÄPPI-Versorgungskonzept eine zentrale Rolle. Für die anstehende Pilotierung würden zehn Hausarztpraxen unterschiedlicher Größen gesucht, erklärte Dr. Susanne Bublitz. Wie bei der Digitalisierung handle es sich auch bei der Umsetzung des HÄPPI-Konzepts im Rahmen der Pilotierung um einen Veränderungsprozess, den der Hausärztinnen- und Hausärzteverband Baden-Württemberg eng begleiten wird und der bedeute, dass Hausärzt:innen Aufgaben an nichtärztliche akademische Gesundheitsberufe delegierten.

„Es ist wichtig, dass wir dahinkommen, andere Berufsgruppe in die Lage zu versetzen, Patientenversorgung zu leisten“, sagte Johannes Bauernfeind. Entsprechende Studienplätze zu schaffen, sei Aufgabe des Landes, sagte Petra Krebs, betonte aber auch, dass Studienplätze kostspielig seien. „Das Land ist in Vorleistung gegangen“, sagte sie mit Blick auf die Akademisierung von Pflegekräfte. Dadurch sei ein Berufszweig empowert worden. Das HÄPPI-Konzept sei im Sinne der Praktikabilität breit aufgestellt worden und es brauche auch den Einbezug der Pflege, sagte Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth.

„Wir müssen mehr delegieren, weil wir es anders gar nicht mehr schaffen“, betonte Dr. Susanne Bublitz. Johannes Bauernfeind pflichtete ihr angesichts des wachsenden Versorgungsbedarfs bei:  „Wir werden andere Lösungen brauchen als 1:1-Lösung zwischen Arzt und Patient.“ Wichtig für die Patient:innen sei es, ein Gefühl von Sicherheit und eine Anlaufstelle zu haben, „das muss nicht immer ein Arzt sein, das kann auch eine Anwendung oder eine App sein“.

Beispiele für Lösungen im Bereich der Digitalisierung wurden direkt im Anschluss an die berufspolitische Diskussion, die mit einer regen Fragerunde aus dem Publkum endete, präsentiert: In einem Elevator-Pitch stellten fünf Start-ups digitale Helfer vor, die einen echten Mehrwert in der Hausarztpraxis und im HÄPPI bieten.

Weitere Informationen: 
-> Elevator-Pitch: Start-ups stellen digitale Lösungen vor
-> Delegiertenversammlung: Anträge und Beschlüsse
-> Pressemitteilung zur Delegiertenversammlung
-> HÄPPI: Das Versorgungskonzept geht in die Pilotphase
-> Pressemitteilung zur HÄPPI-Pilotierung
 

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