17. September 2021

Das Second-Victim-Phänomen: Patientensicherheit ist Mitarbeitersicherheit

Die Grundsätze „primum nil nocere“ und „salus et voluntas aegroti suprema lex“ sind Kernbestandteile des ärztlichen Selbstverständnisses und hohen ärztlichen Anspruchs an das eigene Handeln [1]. Dennoch kommt es im Rahmen der eigenen ärztlichen Tätigkeit immer wieder zu unbeabsichtigten, vermeidbaren Fehlern, die teilweise gravierende Folgen für die Behandelten haben.

Bildbeschreibung
Prof. Dr. med. Dipl.-Kfm. Reinhard Strametz ist Patientensicherheitsforscher an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Zuvor war er langjährig klinisch als Anästhesist und Notfallmediziner sowie als Ärztlicher Leiter der Stabsstelle Patientensicherheit & Qualität am Universitätsklinikum Frankfurt am Main tätig. Er ist Generalsekretär des Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. und Vice Chair des European Researchers‘ Network Working on Second Victims (ERNST).

       

Dabei werden dann häufig nicht nur Behandelte und deren Angehörige geschädigt, sondern auch die Behandelnden selbst. Dies wird als Second Victim Phänomen bezeichnet [2]. Mittlerweile wurde der primär für den ärztlichen Bereich konnotierte Begriff auf alle Gesundheitsfach- und Heilberufe erweitert [3]. Internationale Studien zeigen, dass die Traumatisierung Behandelnder ein länderübergreifendes und flächendeckendes Phänomen darstellt und selbst innerhalb der Weiterbildungszeit schon über 50% befragter Kolleginnen und Kollegen betreffen kann [4, 5]. Dabei ist das Second-Victim-Phänomen jedoch selbst innerhalb der Ärzteschaft bislang wenig bekannt: Im Rahmen der SeViD-I-Studie zeigte sich, dass nur eine von zehn befragten Kolleginnen oder Kollegen in internistischer Weiterbildung das Phänomen kannten, obwohl sechs von zehn Befragten selbst schon einmal eine solche Traumatisierung bei sich selbst beschrieben haben [6].

Folgen einer Second-Victim Traumatisierung

Während einige Personen, die dieses Ereignis gut verarbeiten können, aus dieser Situation also mit höherer Kompetenz und zukünftigem Engagement für Patientensicherheit hervorgehen, verarbeiten bis zu 2/3 aller Betroffenen das Ereignis dysfunktional, was sich ausdrücken kann in dem Verlust an Glauben in eigene Fähigkeiten, Schlafstörungen, Schuldgefühlen, Isolation und Depression, Wiedererleben („Flashbacks“) der Situation oder Medikamenten- und/oder Alkoholkonsum. Die Folgen für Betroffene sind individuell dramatisch und können zur Posttraumatischen Belastungsstörung, zur Berufsaufgabe und im schlimmsten Fall zum Suizid führen [7]. Resultierend aus einer geringeren Aufmerksamkeit oder einer ängstlichen, defensiven Haltung der Second Victims gegenüber Patienten besteht somit das Risiko, dass sich eine Traumatisierung darüber hinaus auch beeinträchtigend auf die Behandlung zahlreicher künftiger Patienten auswirkt [9].

Es ist daher wichtig, sich bewusst zu werden, dass Patientensicherheitsmaßnahmen in gleichem Maß dem eigenen Schutz dienen und umgekehrt: Patientensicherheit ist Mitarbeitersicherheit!

Hilfe für Second Victims Second Victims brauchen Hilfe, um das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die Berufszufriedenheit bis hin zur eigenen Lebensqualität zu erhalten. Strategie aller bisherigen Hilfsprogramme ist es, eine gestufte Krisenintervention für Second Victims zu etablieren, wie das Drei-Stufen-Modell von Scott [3] in Abbildung 1 zeigt. Die meisten Second Victims erhalten bereits in Stufe 1 ausreichend Hilfe, es muss immer die Möglichkeit bestehen, auch Hilfsangebote höherer Bedarfsstufen zu erhalten, was insbesondere die organisatorische Einbindung von Fachleuten voraussetzt. Zur Verminderung der Effekte von SecondVictim-Traumatisierungen können folgende Maßnahmen vor Ort helfen [ 9, 10]:

 

  • Kurze Auszeit von der Tätigkeit anbieten, auch bei Personalknappheit (ein dauerhafter Ausfall wäre die schlechtere Lösung)
  • Aktives kollegiales Gesprächsangebot, nicht nur bei Fehlern, sondern in regelmäßigen Abständen
  • Routinehafte kurze, aber effektive Nachbesprechung belastender Situationen
  • Einfühlsame, aber eindeutige und klare Sprache
  • Grundsätzliche Bestätigung fachlicher Kompetenz
  • Bestärkung des Selbstwertgefühls
  • Emotionen und Ängste zulassen
  • Fachliche Unterstützung und Rückversicherung im klinischen Arbeiten anbieten
  • Bei Fehlern Beteiligten eine Rolle bei der Fehleranalyse geben; über Ergebnisse informieren
  • Aufmerksame Beobachtung, um Isolierung und Rückzug frühzeitig zu erkennen
  • Vermeiden und Ächtung von Lästereien, Mobbing, Schuldzuweisung und Herabwürdigungen (um Hilfe zu bitten ist kein Zeichen von Schwäche, sondern menschlich und verantwortungsbewusst gegenüber eigenen Patienten).

 

Welttag der Patientensicherheit

12 Aktionstage im Jahr gibt es von der WHO. Einer davon: Der 17. September – Welttag der Patientensicherheit – steht dem Titel entsprechend ganz im Zeichen von Patientensicherheit. Seit dem Jahr 2019 wird der ursprünglich vom APS initiierte Aktionstag jährlich von der WHO ausgerufen. Mit der Überschrift „Mach Dich stark für Patientensicherheit: Sicher vom ersten Atemzug an“ für den Welttag der Patientensicherheit 2021 nimmt das APS Bezug auf das Motto der WHO „Act now for safe and respectful childbirth!” Mit dem deutschen Leitmotiv für den Aktionstag soll eine Brücke geschlagen werden: von der Bedeutung, die Patientensicherheit bei der Betreuung von Schwangeren vor und nach der Geburt hat, bis hin zur sicheren Versorgung in jedem Lebensalter. Dementsprechend finden Aktionen zu allen Aspekten der Patientensicherheit Raum beim diesjährigen Aktionstag (Alle Infos: tag-der-patientensicherheit.de). Für dieses Jahr kann der Fokus auf einen sicheren und respektvollen Start ins Leben als besondere Anregung für neue Aktivitäten dienen.

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Dieser Artikel ist erschienen in der Ausgabe Q4 2021 der PTQZ aktuell. Alle Berichte und Themen finden Sie in unserer Online-Ausgabe (Mitglieder-Login wird benötigt) - auch als Download verfügbar.


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Literaturverzeichnis

  1. Strametz R: Grundwissen Medizin: Für Nichtmediziner in Studium und Praxis. 4. Auflage. Stuttgart: UTB; UVK 2020.

  2. Wu AW: Medical error: The second victim. BMJ 2000; 320(7237): 726–7.

  3. Scott SD, Hirschinger LE, Cox KR, McCoig M, Brandt J, Hall LW: The natural history of recovery for the healthcare provider “second victim” after adverse patient events. Qual Saf Health Care 2009; 18(5): 325–30.

  4. Seys D, Wu AW, van Gerven E, et al.: Health care professionals as second victims after adverse events: A systematic review. Eval Health Prof 2013; 36(2): 135–62.

  5. Harrison R, Lawton R, Stewart K: Doctors’ experiences of adverse events in secondary care: The professional and personal impact. Clin Med (Lond) 2014; 14(6): 585–90.

  6. Strametz R, Koch P, Vogelgesang A, Burbridge A, Rösner H, Abloescher M, Huf W, Ettl B, Raspe M (2021): Prevalence of second victims, risk factors and support strategies among young German physicians in internal medicine (SeViD-I survey). J Occup Med Toxicol. 2021 Mar 29;16:11.

  7. Grissinger M: Too many abandon the “second victims” of medical errors. P T 2014; 39(9): 591–2.

  8. Strametz R: Mitarbeitersicherheit durch Risikomanagement. In: Strametz R, Bayeff-Filloff M (Hrsg.): Risikomanagement in der Notaufnahme, Stuttgart. Kohlhammer. 2019; 75–84.

  9. Strametz R, Raspe M, Ettl B, Huf, Wolfgang, Pitz, Andreas: Handlungsempfehlung zur Stärkung der Resilienz von Behandelnden und Umgang mit Second Victims im Rahmen der Covid-19-Pandemie zur Sicherung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens.

  10. Schwappach DL, Boluarte TA: The emotional impact of medical error involvement on physicians: A call for leadership and organisational accountability. Swiss Med Wkly 2009; 139(1-2): 9–15.

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